Interview for Springerin magazine about “The Big Plot”, 08/09.  Das Online-Projekt »The Big Plot« von Paolo Cirio schafft Formen eines neuen kollektiven Erzählens. 2009.
Alessandro Ludovico: Das Online-Projekt »The Big Plot« von Paolo Cirio schafft Formen eines neuen kollektiven Erzählens. 2009. »The Big Plot« von Paolo Cirio beruht auf einer vielfältigen Erzählhandlung, die es den UserInnen erlaubt, miteinander verwobene Pfade von vier ProtagonistInnen zu kreieren. Daraufhin können weitere Figuren erschaffen werden, die mit den ProtagonistInnen auf unterhaltsame und komplexe Weise interagieren. Die Erzählung wird im Netz durch verschiedene soziale Netzwerke geschaffen und gewinnt durch deren Handlungen an Realität. Als sogenanntes »Alternate Reality Game« ist es aktiv in einen Teil des realen Lebens integriert und stellt eine »rekombinante Fiktion« dar, die dem multimedialen und multidimensionalen Ich des Alltags recht nahekommt. Paolo Cirio entwickelte das Projekt als Stipendiat des Werkleitz Zentrums für Medienkunst in Halle.

Alessandro Ludovico: Du hast »The Big Plot« als eine romantische Spionagegeschichte definiert, die in der Infosphäre spielt. Kannst du eine genauere Beschreibung geben?

Paolo Cirio: Es ist eine experimentelle Geschichte, die Videos, Texte, Bilder, Zeichen und Performance benutzt, um eine Geschichte über Spionage, politische Themen und emotionale Beziehungen zu erzählen. Sie wird über diverse Medienkanäle präsentiert, ebenso an öffentlichen Orten, und Publikumsbeteiligung gibt es auch. Die ZuschauerInnen spielen in der Entwicklung der Geschichte eine entscheidende Rolle; sie verfolgen Hinweise, wenn sie Tagebücher oder Videos der Figuren lesen, sie wirken bei öffentlichen Veranstaltungen mit, sie finden andere Teile der Geschichte im Internet verstreut, und sie können mit den Figuren Kontakt aufnehmen, um an mehr Informationen heranzukommen. Die Fiktion basiert auf einer wahren Geschichte: Die Hauptrolle spielt ein russischer Spion, der vor drei Jahren in Kanada verhaftet wurde. Indem ich seinen echten Decknamen benutze, habe ich seine Identität und sein Leben eingesetzt, um ein angebliches Komplott einer russischen politischen Bewegung zu fiktionalisieren. Eines der Ziele dieser Bewegung (zu der es ein Gegenstück in der realen Welt gibt) ist die Erschaffung eines Superstaates namens Eurasia. In der Geschichte werden die politischen Bestrebungen von komplizierten Liebesverwicklungen und Schwächen der psychologischen Integrität aller Figuren zunichtegemacht.


AL: Die Geschichte dreht sich um vier Hauptfiguren. Jede von ihnen hat Videos auf ihren eigenen YouTube-Kanal hochgeladen, ebenso Bilder auf Flickr-Accounts. Außerdem betreiben sie alle einen Facebook-Account und normalerweise ein Blog. Manche von ihnen benutzen noch weitere Plattformen (beispielsweise einen LinkedIn-Account). Siehst du diese Netzwerke nur als ein Mittel, um spezifische Arten von Information in Umlauf zu bringen, oder als Plattformen mit spezifischen Eigenschaften, die als Gruppe genutzt werden müssen? Wie hast du sie für die unterschiedlichen Figuren genutzt?

PC: Jede Figur fungiert als ErzählerIn, und jede entscheidet, was sie uns zeigen will, was mir ein flexibles Tool in die Hand gibt. Solche aktiven Rollen geben der Geschichte einen Dreh, indem sie unterschiedliche narrative Stimmen dadurch entwickeln, wie sie unterschiedliche Medien manipulieren. So trägt die Entscheidung einer Figur, welche Plattform sie sich aussucht und wie sie damit umgeht, dazu bei, bestimmte Eigenschaften und Wesenszüge darzustellen. Zum Beispiel exponiert sich der Spion, der die älteste Figur ist, nicht besonders. Er lädt ein wenig Fotografie auf seinen Flickr-Account hoch und hat einen Facebook-Account, aber nur, weil seine Freunde ihn dazu gezwungen haben. Der politische Anführer dagegen streut seine Propaganda sehr breit und benutzt diverse Plattformen. Die Journalistin nutzt jene Netze, die für ihre Arbeit nützlich sind, wie zum Beispiel LinkedIn. Allerdings müssen wir hier eine Unterscheidung vornehmen: zwischen den Medien, die unser Leben ohne unsere Zustimmung oder Kontrolle aufzeichnen, und denjenigen, die wir bewusst nutzen, um unsere persönliche Information in die Welt zu senden. Um auf diese wichtige Unterscheidung hinzuweisen, arbeitet das Projekt auch mit Information auf Webseiten wie Google oder Wikipedia. Jedes Medium soll eine angemessene narrative Funktion haben. Die Idee von persönlichen Medien sollte eine weiter gefasste Bedeutung haben, bei der jede Technologie, die es uns erlaubt, persönliche Inhalte auszusenden, zum mächtigen und gefährlichen Tool im Hinblick auf gesellschaftliche Beziehungen wird. Tragbare Geräte, die die Vernetzung steigern, Plattformen zum Selbstpublizieren und ein genereller Verlust an Privatsphäre – alle diese Dinge beeinflussen, wie wir unsere privaten Leben gestalten und wie wir mit anderen in Beziehung stehen. Das Buch »The Future of Reputation« von D.J. Solove erklärt einige dieser Themen.


AL: Du hast die vier professionellen SchauspielerInnen in einem richtigen Castingverfahren ausgesucht. Man erkennt sie hauptsächlich durch ihre Gesichter wieder (wie es der Facebook-Philosophie entspricht). War dies das wichtigste Kriterium oder gab es auch andere? Und wie hast du ihre wechselseitigen Beziehungen geplant?

PC: Wie bei einem Filmcasting habe ich SchauspielerInnen ausgesucht, die am besten die Figuren der Geschichte verkörpern, aber so, dass die Grenzen zwischen dem echten Leben und ihren fiktionalen Identitäten verwischt wurden. Zum Beispiel ist der Psychologe des mittleren Managements tatsächlich ein New Yorker Psychologe, der im Nebenberuf als Schauspieler arbeitet. Er hat einige seiner Videoepisoden in seinem Sprechzimmer gespielt und aufgenommen. Der junge Anführer ist ein Typ aus Russland, der in einer Rockband gesungen hat und seine eigene Fangemeinde hatte. Die Journalistin wird von einer Schauspielerin gespielt, die in Toronto und Berlin lebt und auch viel in Russland unterwegs ist. Ich habe die SchauspielerInnen gebeten, mir einige ihrer privaten Fotos zu geben, die sie mit echten Freunden und Verwandten zeigen. Diese Bilder in die Blogs und Facebook-Profile der Figuren zu stellen, schuf, zusammen mit fiktionalen Enthüllungen ihrer Erlebnisse, eine gefährliche Mischung aus Plausibilität und Realität, was dazu führte, dass einige SchauspielerInnen auf die Teilnahme am Projekt verzichteten. Ich war fest entschlossen, die Grenzen zwischen echten und fiktionalen Sphären zu verwischen, ohne jedoch die spezifischen Eigenschaften von beiden außer Acht zu lassen.


AL: Entscheidend ist, dass Teile von »The Big Plot« in der physischen Wirklichkeit stattfinden, besonders einige deiner Interventionen, die als »Alternate Reality Game« beschrieben werden könnten. Was kann man gleichzeitig online und offline spielen?

PC: Durch meine Erfahrung im Organisieren von Smart Mobs und Streetart-Happenings begann ich mich für Aktionen im öffentlichen Raum zu interessieren, die mithilfe digitaler Netzwerke organisiert werden, wo die TeilnehmerInnen durch Anweisungen dazu gebracht werden, an einem realen Ort aufzutauchen. Die gesellschaftlichen Konventionen im Hinblick auf öffentliche Räume aufzumischen, ist eines meiner wichtigsten Ziele. Unvermeidlich entstand dadurch ein »Alternate Reality Game« als ein Weg, alle meine früheren Erfahrungen zusammenzubringen und mich im Theater und Kino zu versuchen, die ebenfalls zu meinen Leidenschaften gehören. Wenn ein Projekt nicht als Fiktion oder als Kunst deklariert wird, glauben die Leute sehr viel mehr daran als im Fall einer Online-Wirklichkeit, wo die Leute immer skeptischer sind und die Effekte gedämpfter. Mit beiden zu arbeiten, könnte die Wirklichkeit fast perfekt simulieren.


AL: Nachdem die Handlung ausgereift war, hast du dich entschieden, die Plattform und somit die Erzählung zu öffnen. Dann, nach einigem Presse-Echo, hat sich eine StudentInnen-Community in den USA darangemacht, etliche zusätzliche Figuren und Geschichten zu entwickeln. Wer sind sie, und was motiviert sie dazu, sich der Erzählung anzunehmen?

PC: Ehrlich gesagt, habe ich nicht viele Informationen darüber, wer sie sind, aber ich bin ziemlich beeindruckt von ihrer Beharrlichkeit, in der Geschichte zu agieren. Sie fügten über 20 zusätzliche Figuren hinzu, mit Facebook-Profilen, Blogs, Twitters und so weiter – einige stellten sogar neue Videostücke ins Netz. Sie folgten dem Erzählstrang, erschufen aber auch neue Teile der Erzählung, über die ich keinerlei Kontrolle mehr habe, abgesehen von den vier Hauptfiguren, die sie dramaturgisch anzuführen versuchen. So ist ein partizipatives Drama entstanden, kein Jux oder Spiel, sondern echte Erzählung und Fiktion. Ich denke, mit dem »Alternate Reality Game« lassen wir ältere Vorstellungen eines passiven Medienkonsums hinter uns. Die Leute wissen mittlerweile, wie man in Geschichten agiert.


AL: Bei dieser Geschichte sind auf Online-Plattformen und in der physischen Realität diverse Bezugspunkte verstreut. Könnte man das Ganze einen »Post-Film« nennen? Oder lässt es sich besser als »rekombinante Fiktion« beschreiben?

PC: Er sieht aus wie ein Post-Film, aber es findet gerade eine Diskussion darüber statt, wie man diese neue Kunstform nennen sollte, und da gibt es schon viele Vorschläge. Ich benutze »rekombinant«, weil ich denke, dass Critical Art Ensemble mit ihrem »Recombinant Theater« prophetische und visionäre Ideen eines neuen Erzählens artikuliert haben, speziell, wenn es eine politische oder gesellschaftliche Dimension haben soll. Ich persönlich sehe »The Big Plot« als ein Stück Konzeptkunst, obwohl es wegen seines experimentellen Charakters schwierig ist, eine formelle Integrität aufrechtzuerhalten.


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